Jean Marie Jung machte sich 1995 mit der Fertigung von Unimog-Planen selbstständig
Mitte der 1990er Jahre stand im heutigen Mercedes-Benz Werk Gaggenau der Unimog-Bereich unter einem enormen Kostendruck. Eine von mehreren Maßnahmen zu dessen Senkung war die Reduzierung der Fertigungstiefe. Vieles, was bis dahin wie selbstverständlich selbst gefertigt oder montiert wurde, stand auf dem Prüfstand, ob es nicht von externen Spezialisten günstiger angeboten werden kann. Dies betraf auch die Sattlerei, in der in erster Linie Planen und Verdecke für den Unimog und einige Mercedes-Lastwagen genäht wurden. In diesem Zusammenhang wurde der Mitarbeiter Jean Marie Jung im September 1995 gefragt, ob ihm im Elsass Firmen bekannt seien, die zukünftig die Planen fertigen könnten.
Jung war erschrocken und besorgt um seinen Arbeitsplatz und erzählte dies seiner Frau Marie Ange, die spontan fragte: „Warum machst du das nicht selbst?“ Und Jean Marie antwortete: „Klar, ich mache das! Platz ist hinter unserem Haus genug. Da grasen nur unsere fünf Schafe.“
Damit kam der Stein ins Rollen und alles ging extrem schnell – in Deutschland unvorstellbar: Die Verantwortlichen im Unimog-Bereich reagierten überaus positiv und sagten: „Uns konnte nichts Besseres passieren!“ – und stellten die kostenlose Übergabe aller Nähmaschinen in Aussicht. Die elsässische Gemeinde Leutenheim erteilte sofort die Baugenehmigung, und nach fünf Wochen Planung erfolgte noch im Oktober der erste Spatenstich. Schon zwei Monate später, am 12. Januar 1996, verließ ein Lkw mit der ersten Lieferung von Unimog-Planen und Radabdeckungen für Lastwagen an das Zentralersatzteillager von Daimler in Germersheim den Hof.
In den letzten Wochen des Jahres 1995 hatte der Sohn Emmanuel noch Gelegenheit, sich im Werk Gaggenau in das Nähen von Unimog-Planen einarbeiten zu lassen, bevor die Maschinen abgebaut und nach Leutenheim transportiert wurden. Im ersten Jahr konnte das überschaubare Programm noch mit der Frau Marie Ange, der Tochter Barbara sowie zwei Näherinnen bewältigt werden. Eine dieser Näherinnen, Denise Hindenlang, ist heute noch im Betrieb tätig.
Anfangs führte die Familie noch gemeinsam den Betrieb. Dabei hatten sie in dem leider sehr früh verstorbenen Buchhalter Jean-Marc Schneider eine wertvolle Stütze. Seit 2007 haben die Kinder Barbara Wüst und Emmanuel Jung die Verantwortung allein übernommen. Der gut am Markt eingeführte Name Jung & Fils wurde beibehalten.
Jung & Fils heute
Das Produktionsprogramm von Jung & Fils wurde in den zurück liegenden Jahren ständig erweitert – hin zum Spezialisten für Abdeckungen und Schutzvorrichtungen aller Art im Gewerbe und in der Automobilindustrie – primär für Daimler und Porsche. Im Extremfall müssen Schutzvorrichtungen auch kurzzeitig Hitze mit bis zu 1600 Grad widerstehen.
Einen Großteil der Fertigung, die von 16 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bewältigt wird, machen Mehrwegbehälter für den Transport empfindlicher Produkte zwischen verschiedenen Montagestandorten aus. Die Kunden schätzen bei der Suche nach Problemlösungen die Flexibilität, die Kreativität und das Know-How ihres Lieferanten im Elsass.
Über diese individuelle Betreuung freuen sich auch viele Privatkunden, wenn sie Planen für die Abdeckung von Teichen oder maßgeschneiderte Markisen benötigen. Ganz nebenbei werden zudem Pavillonzelte hergestellt und verliehen. Viele Erlkönige kamen mit Planen von Jung & Fils „unter die Haube“.
Natürlich werden auch weiterhin Planen, Verdecke, Hebelabdichtungen und Sitzpolster für Unimog oder Lastkraftwagen hergestellt und an Händler oder Endkunden geliefert. Aber diese machen nur noch etwa zehn Prozent des Umsatzes aus. Dabei wird übrigens das Segeltuch vom früheren Mercedes-Lieferanten in hoher Qualität exklusiv für Jung & Fils hergestellt.
Jung & Fils morgen
Nach dem Motto „Wer rastet, der rostet!“ streben Barbara Wüst und Emmanuel Jung ein behutsames Wachstum an. So ist eine räumliche Erweiterung der derzeit rund 1000 Quadratmeter Produktionsfläche ebenso geplant wie die Belieferung weiterer Großkunden mit individuellen Lösungen für den Schutz hochwertiger Produkte.
Der tapfere Schneider
1950 wurde Jean Marie Jung im elsässischen Leutenheim geboren und machte bei seinem Vater eine Schneiderlehre. Mehrere Jahre war er dann beim als Näher und in der Maschinenreparatur des Textilservices Bardusch in Ettlingen tätig. Nach Absolvierung seines Wehrdienstes heiratete er 1972 und wechselte zur Modeschneiderei Boll in Rastatt.
Als diese zwei Jahre später ihren Zweigbetrieb in Rastatt aufgab, wollte der Jungvermählte nicht mit nach Aschaffenburg wechseln.
Da fügte es sich gut, dass das Werk Gaggenau der damaligen Daimler-Benz AG 1974 im Elsass Mitarbeiter anwarb, um einen Unimog-Großauftrag für die Bundeswehr bewältigen zu können. So wurde aus dem Modeschneider ein Planenschneider.
Anfangs fuhr er mit weiteren Pendlern noch mit dem Bus ins Werk. Mit Auslauf des Bundeswehr-Auftrags und somit dem Wechsel vom Zweischicht- in den Normalschichtbetrieb nutzte Jean Marie Jung seinen Jahreswagen, den er seit 1978 fuhr, für die zweimal vierzig Kilometer zwischen seinem Heimatort und Gaggenau.
Und dann kam 1975 der Sprung in die Selbstständigkeit. Dabei fällt einem spontan ein: „Des einen Uhl ist des anderen Nachtigall!“
Jean Marie Jung weiß seinen Betrieb bei den Kindern in guten Händen, und er hat endlich mehr Zeit für sich. Unimog aus den Pionierjahren sind dabei sein besonderes Hobby. Für seine sechs Unimog und einen von ihm wunderschön restaurierten UNIC-Oldtimer, Baujahr 1924, in Schwarz und Bordeaux, will er in den nächsten Monaten eine Halle bauen, um die derzeitige Fläche in Produktionsfläche umwidmen zu können.
Jean Marie Jung hat die Mitgliedsnummer 935 im Unimog-Club Gaggenau – ist also gleich nach der Öffnung für Mitglieder außerhalb des Landkreises Rastatt und Stadtkreises Baden-Baden und somit auch bereits als Mitarbeiter des Werkes Gaggenau eingetreten.
Text und Fotos: Michael Wessel